#103 Charakterfrage

Häuser, Gebäude, Architektur generell finde ich spannend. Ich schaue also gerne um mich herum und nach oben und versuche das Besondere in den mich umgebenden Gebäuden zu finden. Für mich sind alle Gebäude von Scheune bis Schloss, von Burg bis Hochhauskomplex interessant. Zugegeben, darunter gibt es viele, da hat sich der Erbauer wenig bis gar nichts dabei gedacht. Das rein Zweckmäßige gibt federführend den Ton an und stahlt damit eine ebenso trostlose wie langweilige Stimmung aus, was ich sehr bedauerlich finde. Ich bin mir sicher, dass diese Eintönigkeit sich auch auf seine Insassen überträgt. Das ist dann doppelt bedauerlich. Obwohl, auch hier gibt es bisweilen Ausnahmen, deren Zweckmäßigkeit die äußere Eleganz nicht missen lassen.

Ab und zu treffe ich auf Charakterhäuser, jedenfalls nenne ich sie so in meiner Fantasie. Die Architektur zeichnet sich in diesen Fällen dadurch aus, dass sie für mich auf eine schwer beschreibbare Art und Weise lebendig zu sein scheint.

So auch in diesem Fall. Ich komme an dem Haus auf meinem Weg in die Stadt vorbei. Dabei sehe ich jedes Mal einen Frauenkopf vor mir. Die dunklen Haare ordentlich gekämmt und schön zu einem Mittelscheitel mit Außenwelle, wie es in den Sechzigern modern war, frisiert. Heute hat sie sich besonders herausgeputzt. Die herausgefahrenen Markisen lassen die Augen lasziv geschminkt erscheinen. Ihr Blick schaut somit besonders aufreizend auf die vorübergehenden Passanten hernieder. Mit diesem Augenaufschlag erinnert sie mich direkt an die stilisierten Hollywoodschönheiten aus eben jener Epoche. Sie ist ein wenig in die Jahre gekommen, hat um die Mitte zugelegt und steht, wie eh und je, auf ihren dünnen Beinchen. Etwas zu breitbeinig – das gehört sich gar nicht so recht für ein anständiges Mädel der hiesigen Innenstadt – und dabei beherbergt sie doch das ansässige Finanzamt.

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