#109 Korrosion

Mein selbstgewählter dix:Minutes-Auftrag lautet bekanntlich, dass ich meine Augen offenhalte. Offen denjenigen Dingen, Begebenheiten, Begegnungen Beachtung schenke, die ansonsten vom Nebel des Vergessens verschluckt werden würden. Inzwischen fällt es mir leicht, genau dieses zu erkennen, hier festzuhalten. Heute ist es so:

Diese Woche ist meine Beauty-Woche. Nach Kosmetik am Mittwoch, bin ich heute beim Friseur. Wir kennen uns schon sehr lange. Das ist vorteilhaft, denn ich sag einfach nur: mach halt und er macht halt. Bevor Fragen kommen – ja, ich bin anspruchsvoll, was das anbelangt. Im Warten auf meine Fertigstellung geht mein Blick zum Spiegel vor dem ich sitze und dann rechts daran vorbei. Jenseits der regenassen Fensterscheibe, im Gebäude auf der anderen Straßenseite, kann ich eine Gruppe junger Menschen ausmachen, die offensichtlich Unterricht hat. Der Dozent schreibt ausschweifend mit rotem Stift auf ein Whiteboard mathematische Formeln. Ich sehe, wie die Studenten eifrig Notizen machen.

Lasse ich meinen Blick ein ganz klein wenig wieder nach links schweifen, kann ich in eben jenem Spiegel die Szene hinter mir an den Kopfwaschbecken verfolgen. Hier wird ordentlich shampooniert, massiert oder Farbe angerührt. Vor und hinter mir Arbeitswelten und ich mitten drin aber irgendwie auch nicht. Ich sitze nur da und muss nichts machen (außer beobachten). Im weiteren Verlauf meines Tages komme ich im zähfließenden Verkehr langsam durch eine Baustelle und sehe ein vom Rost zerfressenes Geländer (?) oder Abtrennung oder was es auch immer ist, beziehungsweise war. Die Korrosion hat sich zäh aber ausführlich durch das Eisen gefressen. Es sieht bizarr aus. Ich überlege, ob ich irgendwo in meiner Umgebung etwas Ähnliches kenne. Mir fällt nichts ein. In unserer cleanen Welt der Sicherheitschecks ein zunehmend ungewöhnlicher Anblick, wie ich meine. Deshalb zücke ich kurzentschlossen mein Handy (natürlich nicht während ich fahre -Sicherheitscheck) und halte meinen Eindruck fest.

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