#163 Mängelexemplar

Im überschäumenden Eifer, ein Kribbeln unter der Haut, das fast körperlich ist, lasse ich alles links und rechts liegen, weil ich schreiben muss. Es ist, als wollen alle Ideen, Satzfragmente, Bruchstücke von Texten gleichzeitig herausbrechen aus mir. Ein Drang, der zweifelsohne kanalisiert gehört und so verschiebe ich den Telefonanruf auf später. Ich brauche erst meine Zeit. Meine Zeit für die Geschichte von heute.

Meinem Alter geschuldet kann ich mich an die Zeit erinnern, als der sommerliche Hochgenuss sich im Fürst Pückler Dreiklang Schoko – Vanille – Erdbeere erschöpfte. Von Stracciatella war weit und breit noch nichts zu sehen. Geschweige denn Basilikum-Zitrone oder Cookies and Cream. In meinem Heimatstädtchen verlief die Order an der Theke der Eisdiele am Bertha Platz ungefähr so: „Isch hätte jähn zwei Bällchen Ies em Hörnchen, Vanille un Schoko bitte“. Aus dem Kopf zitiert, ohne Anspruch, den Singsang des Dialektes perfekt nachzuahmen. Mit ein paar Groschen bin ich dabei und strecke mich, um das Geld über die Ladentheke zu reichen.

Da ich gedanklich gerade vor Ort bin, erinnere mich weiter an Felix Worte: „der Rheingau hat mich hervor gebracht“. Örtlich stimmt das in meinem Fall zwar nicht ganz, dennoch kenne ich die weinschwangeren Gassen mit vormittäglichen Zechgelagen der Rheintouristen aus eigener Ansicht. Heute laufe ich mit meiner Kugel After Eight, in der Waffel versteht sich, denn manche Dinge ändern sich nicht, durch die Stadt. Luftig schlendere ich vor mich hin, meiner Erinnerungen nachhängend, während ich mich langsam meinem Ziel nähere. Die Buchhandlung hat draußen einige Exemplare als Sonderangebote ausgestellt. Da ich noch mit Schlecken beschäftigt bin, schaue ich sie mir genauer an. Manche sind rüde mit Mängelexemplar (ab)gestempelt. Was wohl der Mangel ist? Vertippt? Fehlende Seiten? Ist es wirklich ein Mangel? Oder eher ein Beitrag zur Vielfalt aus dem Neues entspringt, überlege ich und betreten den Laden.

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