Vom ersten Tag an in unserer Wohnung, schaut eine alte Frau am gegenüberliegende Fenster auf die Straße hinaus. Sie sitzt dort und beobachtet offensichtlich die Geschehnisse, die sich in ihrem Blickfeld ereignen. Ich kann nicht sagen, ob sie ein Kissen auf die Fensterbank gelegt hat, wie es die Menschen in den alten Ruhrpott Filmen stets gemacht haben. Ihre Beharrlichkeit ist allerdings ähnlich ausdauernd. Nichts ist so aufregend, wie die Geschehnisse der Straße, die oft Unterhaltung genug bieten.
Seit einiger Zeit nun ist das Fenster verwaist. Die Frau schaut mir nicht mehr entgegen. Nimmt meine Anreisen und Abreisen, meine Gäste und all das, was sich hinter meinem Fenster zur Straße tut, nicht mehr wahr. Denn sie ist nicht mehr da. Die Familie, mit der sie zusammenwohnte, ist ebenfalls fort. Ja, sie hat auf die Straße geschaut ohne die platte Vermutung, dies von Einsamkeit getrieben zu tun. Im Gegenteil. Kinder und Enkel sind um sie herumgesprungen. Trotzdem suchte sie auf der Straße Ablenkung. Oder ihre Ruhe. Wer weiß? Ich habe mitbekommen, wie vor einigen Wochen in der Wohnung gestrichen wurde. Die ehemaligen Mieter haben die Fenster mit Folie beklebt und sie aufgerissen, um die Feuchtigkeit der frischen Farbe entweichen zu lassen. Den Auszug selber habe ich nicht mitbekommen. Ich kann auch nicht sagen, was mit der alten Frau passiert ist. Wir hatten keinen Kontakt.
Heute nun, und ich erzähle hier immer nur die reine Wahrheit, betrete ich mein Zimmer zur Straße und schaue aufs Fenster gegenüber. Ein junger, durchtrainierter Mann sitzt auf der Fensterbank am offenen Fenster mit bloßem Oberkörper und raucht. Es ist wieder wie im Film – diesmal halt weniger Ruhrpott, sondern mehr Hollywood. Dieses Fenster scheint für Fensterbankhocker und für Draußenaufdiestraßeschauer einfach prädestiniert zu sein. Kontinuierlich wickelt sich das Leben wie der Faden eines Knäuels auf und ab.