#196 abgestellt

Was soll das? Was soll das, frage ich mich als ich mich angekettet und ziemlich derangiert an einen Laternenpfahl wiederfinde. Gestern noch war ich stolz und schön und nützlich. Heute schon bin ich scheinbar zu nichts mehr zu gebrauchen. Ist das wirklich so? Will mich niemand mehr? Ohne Sattel und Vorderrad mache ich allerdings alles andere als eine gute Figur. Ich fühle mich ausgestoßen, erniedrigt, unerwünscht. Und vor allem schäme ich mich, dass mich jeder in diesem Zustand sieht. Das ist das Schlimmste von allem. Ich fühle mich wie ein Clochard, wie ein Bettler. Anwesend jedoch unsichtbar.

Das dicke Zahlenschloss passt grotesk zu meinem übrigen Anblick und verschärft meine unrühmliche Lage. Was soll bloß aus mir werden? Ich kann nicht fort. Bin bewegungsunfähig zum Ausharren verdammt. Ich fühle mich meiner Seele beraubt, denn meine Freiheit ist futsch. Aus eigener Kraft kann ich nicht weg und muss auf eine fremde gute Seele hoffen, die sich meiner annimmt.

Ach, wie fühle ich mich doch genau in diesem Moment denjenigen verbunden, die ein ähnliches Schicksal wie ich erleiden. Selbst ohne Fesseln bin ich auf Hilfe angewiesen, schließlich kann ich nicht auf einem Rad fahren. Wieder kreisen meine Gedanken um die Fragen: Wer hat mich hier abgestellt? Wer hat mich hier vergessen und warum? Bin ich so wenig Wert? Traurig schaue ich trotzig und verstohlen zu denen hinauf, die achtlos an mir vorbei flanieren.

Jetzt versuche ich mich selber unsichtbar zu machen, mit meiner Umgebung zu verschmelzen. Zum Glück gelingt mir das fast. Nach so vielen Tagen, die ich hier in dieser Stellung ausharre, habe ich wenig Hoffnung auf Erlösung. Der einzige kleine Stolz, der mir geblieben ist, ist das Katzenauge. In ihm verfängt sich bisweilen ein Lichtstrahl und ich funkle der Welt mit dem letzten bisschen entgegen, das ich aufzubringen vermag.

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