Es ist ein kalter, dunkler Januartag vor fünfundachtzig Jahren. Eine junge Frau verlässt ihre Wohnung im vierten Stock. Sie nimmt eine Stufe nach der anderen. Steigt hinab. Vorsichtig, als ob sie sich nicht traut. Wieder einmal nimmt sie diesen Weg, wie schon oft. Auch heute wird er sie wieder entlang der Häuserblocks durch die Straßen der Großstadt führen. Wir folgen ihr durch Berlin, begleiten sie auf ihrem Weg.
Als sie das Treppenhaus verlässt und auf das Trottoir tritt, weht ihr ein eisiger Wind entgegen. Wieder zögert sie. Wendet sich langsam nach rechts und zieht dabei Mantel und Kopftuch enger an ihren mageren Körper. Sie ist noch jung. Gerade vierundzwanzig. Vor gut einem Jahr hat sie geheiratet. Ihre Eltern waren bei der Hochzeit nicht anwesend. Sie sind schon tot. Vor vier Monaten kam ihr erstes Kind auf die Welt. Sie nennt es Helga. Hat es Helga genannt. Gestern kam die Nachricht. Sie könne kommen und es sehen, ihr totes Kind.
Was hat sie gebettelt und gefleht. Nicht locker gelassen hat sie. Hat immerzu an der Pforte des Krankenhauses gestanden und nach ihrem Baby gefragt. Wieder und wieder.
Vor zwei Monaten hatte sie es in der Zuversicht und dem Glauben an Heilung ins Krankenhaus gebracht. Dort nahmen sie sich des kleinen Mädchens an. Schickten sie wieder heim, missbrauchten das Kind. Lebend hat sie es nicht wieder zu Gesicht bekommen. Jeglicher Kontakt wurde von Seiten des Krankenhauses untersagt.
‚Sie wolle es doch nur einmal kurz in die Arme nehmen‘, sagt sie verzweifelt. Die Antwort fällt lapidar, rüde sogar, aus. ‚Sie würde den Heilungsprozess behindern, wenn sie sich dem Kinde nähere‘. Doch sie bleibt dran. Steht jeden Tag an der Pforte, fragt nach Ihrem Mädchen. Jeden Tag ein klein wenig Hoffnung…
–Fortsetzung–