#428 Biedermeier 2.0

Ich packe im Büro schnell meine sieben Sachen zusammen und mache mich auf den Weg nach Hause. Das letzte Online-Meeting des Tages, überlege ich mir spontan, mache ich von daheim. Ergonomisch nutze ich so die Pause für meine Rückfahrt und habe heute Abend Zeit für mich übrig. Mit dieser Aussicht verlasse ich beschwingt meinen Arbeitsplatz und laufe zum Auto. Natürlich bin ich etwas knapp dran aber es wird schon hin hauen.

In meinem Radiosender gibt es Informationen aus Kunst und Kultur. Ich höre gespannt zu, als ein Thema angesprochen wird, das ich gleichermaßen verstörend und befremdlich finde. Es wird über einen Trend im Netz gesprochen, bei dem Frauen ihre feminine Seite betonen. Feminin statt Feminismus lautet ihr Motto. Es geht dabei um kurze Sequenzen in denen sie sich bei vermeintlich traditionellen „Hausfrauenbeschäftigungen“ filmen. Im Radio wurde nun über einen Bezug mit der einhergehenden Frage besprochen, ob die Streaming-Serie einer bekannten Mittdreißigerin ebenfalls in die Richtung dieses Trends zu sehen ist. Ihn eventuell sogar durch ihre Prominenz befeuert.

Mir ist nicht ganz klar, warum eine Hausfrau nicht auch eine Feministin sein kann oder umgekehrt eine berufstätige Frau feminin. In diese Richtung weiter gedacht, gelange ich zur Überlegung, ob dieser Trend gar im Verzicht auf Selbstbestimmung endet. Wer weiß.

Achtung – ich scheiße jetzt mal klug, denn es ist nicht das erste Mal, dass mir in diesem Zusammenhang der Begriff „Biedermeier“ einfällt. Zeitlich befinden wir uns zwischen 1815 und 1848. Diese Epoche ist durch Krisen und unsichere Umstände gekennzeichnet. Ähnlich, wie jetzt. Vielleicht kennt ihr sie eher unter dem Begriff „Vormärz“. Nun, jedenfalls haben sich zu dieser Zeit die Menschen ins Private zurückgezogen. Auch wenn das Netz schwerlich als „privat“ bezeichnet werden kann, so ist doch eines sicher: es war alles schon mal da. Zu weit hergeholt? Finde ich nicht.

Text Bild aus: Metzler Literatur Lexikon, J.B. Metzler, Stuttgart 1990, S. 51

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