Ich lache mit meiner Großmutter über die Geschichten ihres Vaters. Der Vater ist Schornsteinfegermeister und ausgestattet mit viel Humor. Er schreckt nicht davor zurück, den Pastor zu ärgern, als dieser im Garten flanierend an seiner Sonntagspredigt arbeitet. Aus dem Schornstein heraus ruft er den Gottesmann mit seiner tiefen, sanften Stimme an: „oh Samuel, oh Samuel“, so dass dieser ehrfürchtig die Fassung verliert. Ein anderes Mal begleite ich ihn tapfer dabei, die Leiche eines Mannes die enge Stiege hinab zu tragen. Zum Dank für seine Hilfe bekommt er ein Ei, das er unter dem Zylinder seiner Kluft umsichtig deponiert, heimwärts bringt. In der Küche sehe ich ihn vor dem mit heißem Wasser gefüllten Waschzuber knien. Er wäscht erst Gesicht und Hände, bevor er sich ganz hineinsetzt und den Rest seines Körpers vom Ruß und dem Schweiß der Arbeit befreit. Sein tägliches Ritual – wieder und wieder.
Ich höre mir all diese Erzählungen voll staunendem Interesse an. Ich möchte sie immer wieder und wieder hören und passe auf, dass keine Details verloren gehen, mir nichts unterschlagen wird. Einmal staune ich darüber, wenn mein Urgroßvater mit einem klumpen Gold in der Tasche zur Messe nach London fährt. Ob es wirklich ein Klumpen ist – keine Ahnung. Dichtung und Wahrheit verschwimmen bisweilen.
Dort wo die Erinnerung des Erzählers aufhört, beginnt die Fantasie. Und ich bin noch so klein, mir ist es egal, denn es tut nichts zur Sache. Im Gegenteil, es beflügelt meine Vorstellungskraft und macht mich süchtig nach mehr. Ich sammle Geschichten und freue mich über jeden kleinen Fetzen, den ich ergattern kann. Heute, ja heute ist das immer noch so und ich würde, wenn ich könnte, noch viel, viel mehr fragen und wissen wollen als es das Maß der Vernunft und die Geduld der Anderen erlauben. Denn im Herzen, ganz tief in meinem Herzen bin ich, was das anbelangt, immer noch fünf Jahre alt.