#689 Küsse, Bücher und freie Zeit

Ich sitze in der Bahn, die mich in die Stadt an mein Ziel bringt. Aufgrund einer Fahrplanänderung hält meine Linie nicht wie früher am gewünschten Ziel, sondern biegt vorher zum Hauptbahnhof ab. Das ist unpraktisch, lässt sich jedoch nicht ändern, weshalb ich ein Stück laufe. Da das bekanntlich gut ist und mich meine Ärztin vorhin gefragt hat, ob ich in letzter Zeit weniger Bewegung gehabt hätte, was ich leider bejahen musste, gibt es keine Ausrede. Es ist noch früh. Der Nordwind fegt über den breiten Boulevard, treibt das Laub vor sich her.

Am zweiten Ziel des Tage angekommen, stelle ich voller Freude fest, dass das Café bereits geöffnet hat und ich starte mit einem Cappuccino in meinen Tag. Es könnte schlimmer sein. An meinem Platz angekommen merke ich: die Muse hat heute keinen guten Tag, sie küsst mich nicht. Das wird zäh.

Ich blättre in meinem Büchern, überlege. Fange an zu schreiben, überlege. Ist das gut? Nein, ich bin nicht zufrieden. Ich lösche den Absatz und den nächsten gleich mit. Dann füge ich ihn an anderer Stelle ein. Schlecht. Das passt nicht. Nächster Versuch, nächste Stelle. Nein, auch hier klappt es nicht. Also entschließe ich mich die Rubrik: Outtakes zu schaffen und füge die Zeilen dort ein. Schließlich weiß ich ja nicht, wofür sie dienlich sein könnten.

Beim Ringen mit mir und der mangelnden Inspiration ist mir eine Sache gut gelungen. Den Anfangssatz habe ich bereits. Der letzte Satz, der allerletzte, kam heute dazu. Glasklar liegt er vor mir und als ich ihn betrachte fällt mir nicht ein, warum es jemals ein anderer würde sein können. John Irving beginnt immer mit dem letzten Satz und erläutert seine Vorgehensweise damit, dass er zu Beginn wissen müsse, wohin die Reise geht. Nun habe ich ihn verstanden.

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