#75 Magie – Ursprung

„Erzähl mir bitte eine Geschichte von früher“, fordere ich meinen Vater auf, denn ich brenne geradezu darauf, sie zu hören. Sie spielen im Hannover der Nachkriegszeit und ich erfreue mich daran, wie er sie mir erzählt, ausschmückt. Vielleicht, ganz vielleicht, ein wenig übertreibt. Spannend und plastisch sehe ich Bubi und Spatze vor meinen Augen entstehen. Schmecke die Senfbrote und Bruchschokolade und sehe die Jungs in kurzen Hosen und langen Strümpfen um die zerbombten Häuser ihres Viertels ziehen. Ich erlebe die Geschichte der geklauten Äpfel und begleite meinen Vater auf seinem Roller in die Stadt, um dort Bananen zu besorgen, wie es ihm seine Mutter aufgetragen hat. Ich spiele mit ihm Fußball und verbrenne mich am Bügeleisen. Mache mit ihm die Fläschchen für seine jüngeren Schwestern und pfeife, so wie er, auf dem Mundstück der Blockflöte wieder das nächste Fußballspiel an. Ich kann mir alles lebhaft vorstellen und doch, ich bin erst fünf Jahre alt.

Solange ich zurückdenken kann, gibt es nichts, was mich mehr fasziniert. Ich höre sie alle. Die Erzählungen meines Vaters und die meiner Mutter. Von meinen Großeltern und allen Leuten, die ich bewegen kann, mir ihre Erlebnisse zu schildern. Mit meinem Opa radle ich von Berlin nach Stettin. Sehe in Pankow die Welt aus seinen Augen und empfinde den Schmerz über den verlorenen Vater. Mit meiner Oma verkrieche ich mich beim Schweineschlachten ängstlich ins hinterste Eck des Hauses. Verstecke mich mit meiner Mutter heimlich hinterm Sofa. Dort verschlingen wir selig und gierig den Schokohasen, den sie zuvor ihrem großen Bruder stibitzt hat. Klavier spielen wir zusammen bei den Nonnen und verhelfen uns mit Susi gegenseitig zu Alibis. Ich kann mir alles lebhaft vorstellen und doch, ich bin erst fünf Jahre alt.

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