#291 Railway

Die Wolken am Himmel hängen tief. Ich stehe am Bahnsteig und warte auf den Zug. Der leichte Regen taucht den gegenüberliegenden Weinberg in einheitliches Grau. Das Laub der Weinreben lässt sich durch den Schleier kaum als bunt erahnen. Im Gleisbett vor mir kämpfen ein paar Blümchen ums Überleben und setzen mit ihren gelben Blüten dem trüben Tag ein Lächeln auf. Der Regio ist voll. Damit habe ich nicht gerechnet. Der Zug platzt aus allen Nähten. Eine komplette Schulklasse hat sich überall verstreut. Sitzplätze sind rar. Viele Reisende sind mit großen Koffern unterwegs, die aus Mangel an Abstellflächen Sitzplätze blockieren.

Ich habe keine Lust zu stehen. Also quetsche ich mich zu einem Fahrgast in die Reihe. Er sitzt breitbeinig mit verschränkten Armen da. Den Kopf nach vorne gelehnt und schläft oder döst oder so. Mir egal, ich setze mich trotzdem. Auf der anderen Seite schaue ich in das Profil eines weiteren Mitreisenden. Der Gast verschwindet unter seiner Jackenkapuze, die er sich über den Kopf gezogen hat. Eine spitze Nase, die sich keck nach oben reckt, Mund und Kinn schauen hervor. Seine Augen sehe ich nicht. Wie wohl ein Scherenschnitt aussehen würde überlegt mein Hirn blitzartig. Ich versuche mich abzulenken, hole ein Prospekt aus der Tasche und fange an zu lesen.

Das funktioniert nur semi gut, da ein paar Plätze vor mir eine Dame mit einem offensichtlich jungen Pärchen ins Gespräch kommt. Da bekanntlich wegschauen klappt, weghören jedoch nicht, werde ich ungefragt Zeugin ihrer Konversation. Sie, eine schwangere Hebamme aus dem Badischen, ist mit ihrem Partner, der aus dem Süden kommt, unterwegs. In seiner Heimat ist er Schwimmtrainer für Leistungssport. Die Dame selbst ist auf den Weg zum Ammersee. Aha. Dann ist es Zeit zum umsteigen. Der ICE ist leer genauso wie das Bordrestaurant (#87 Lieblingsgast), das heute geschlossen ist.

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