#302 einfach abgestellt

Der Zufall will es, dass heute erneut Flaschen meinen Weg kreuzen. Äh, eine, Singular. Und eine Treppe wie gestern auch (#301 Altglas). Meine Mutter würde an dieser Stelle von der Duplizität der Ereignisse sprechen. Aber dies sei nur am Rande erwähnt. Also eine Flasche und dieses Mal nicht aus Glas, sondern eine aus Plastik ist es, die mich beschäftigt.

Anstatt den Aufzug zu nehmen, nehme ich die Treppe in einem Bürogebäude. Ich bin fast unten angelangt, entdecke ich auf halber Höhe des Treppenabsatzes eine Flasche auf dem Fenstersims. Augenscheinlich knalle blau ist sie, wie ihr seht. Was macht die denn hier? Wurde sie absichtlich dort abgestellt, um von ihrer Last befreit zu sein? Oder wird sie am Ende jetzt gerade schmerzlich vermisst? Beides ist möglich. Einfach abgestellt? Oder vergessen? Das kann ich nicht beurteilen. Was ich jedoch weiß ist, dass ich mich ebenfalls manchmal abgestellt fühle. Ich glaube, das Gefühl nicht beachtet zu werden, kennen wir alle.

Aber da ist noch etwas anderes, das mich innehalten lässt. Ich bin nämlich gar nicht in der Stimmung mich irgendwie schlecht zu fühlen. Deshalb switche ich um und sage mir, dass es sich um Kunst handelt. Warum nicht? Soll erstmal wer das Gegenteil beweisen. Unter der Überschrift: Kunst an ungewöhnlichen Orten. Eben nicht einfach nur unbeachtet abgestellt, vielmehr wirkungsvoll drapiert. Alles eine Frage der Sichtweise, wie so oft. Ein Preisschild dran, einen Hinweis zur Provenienz und in aufwendigen Lettern entsprechend blumig umschrieben – schon ist das Kunstwerk perfekt. Ich sehe den Titel vor mir: „Vois le Grand Truc Bleu avec tes Yeux!“ (*Sieh das große blaue Ding mit deinen Augen!) – sowas in der Art. Gleich macht eine alte Flasche viel mehr her. Zufrieden mit meinen Überlegungen nehme ich beschwingt die letzten Stufen der Treppe und mache mich auf den Rückweg.

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