#338 über.leben

Ich sitze in der letzten Tischreihe im Klassenzimmer. Der Platz neben mir bleibt leer. Zu meiner Rechten hat er links am nächsten Zweiertisch gesessen. Nun kommt er nicht mehr. Wie ich es erfahren habe, daran erinnere ich mich nicht. Über Bekannte meiner Eltern oder erst in der Schule. Die Nachricht ist unwirklich. Zunächst jedenfalls und dann der freie Platz. Auf einmal. Ohne Vorwarnung. Weg. Sein Sitznachbar und ich sehen seine Lücke. Wir sagen nichts. Wir schweigen. Es gibt nichts zu sagen, nichts zu besprechen. An mein Gefühl der Beklommenheit, der Scham, der Trauer, daran erinnere ich mich. Von dem, was der Lehrer sagt, dringt nichts zu mir durch. Es interessiert mich nicht. Mit großen Augen starren wir vor uns hin oder dorthin, wo er sitzen müsste. Niemand sagt ein Mucks.

Wir waren nicht eng vertraut. Ich kannte ihn als Klassenkameraden. Als denjenigen, den ich mal schnell fragen konnte, wenn ich nicht weiter wusste. Sein älterer Bruder hatte mir eine Zeitlang Nachhilfe in Englisch oder Mathe gegeben.

Auf einer Landstraße in Norddeutschland ist es passiert. Vier junge Menschen. Er, seine Schwester und ihr Freund, die amerikanische Austauschschülerin. Frontalzusammenstoß mit einem Tanklastzug. Sie hatten keine Chance.

Es gibt eine kleine Trauerfeier für die Jahrgangsstufe in der Aula. Damals wahrscheinlich eher von der SMV als von der Schule organisiert. Wie damit umgehen? Das hat uns niemand gesagt.

Es ist lange her. Aber es war kein Einzelfall. Es gab noch mehr Unfälle, Krankheit und Suizid. Vier Kinder. Alles Jungs in unterschiedlichen Altersstufen. Gemeinsam haben wir die Grundschule besucht oder in Cliquen rumgehangen. Immer wieder, nicht häufig, situativ kommt es vor, dass ich an sie denke, mich an sie erinnere. Dann habe ich Bilder von ihren Gesichtern im Kopf. Es hätte anders sein können. Selbstverständlich, so weiß ich jetzt, ist im Leben nichts.

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