#339 Mandarine

Den Feierabend läute ich heute mit einer Mandarine ein. Meine erste in dieser Wintersaison. Ich hole sie aus dem Kühlschrank und fange andächtig damit an, die Schale abzuziehen.

Beim Schälen kommen mir die Zeilen eines Gedichts in den Sinn, das ich von meiner Großmutter gelernt habe. „Denkt euch, ich habe das Christkind geseh’n“, lautet der erste Satz und beschreibt weiter, wie es sich seinen Weg durch den verschneiten Wald bahnt. Dabei hat es „das Mützchen voll Schnee“.
Meine Mandarine ist noch ganz kalt und dennoch steigt mir sogleich der bekannte Duft in die Nase. Ich halte inne und schnuppere noch einmal extra. Was für ein köstliches Aroma. Genießt ihr die erste Mandarine im Winter auch besonders? Ich schon.

Es ist kalt im Wald. „Die kleinen gefrorenen Händchen taten ihm weh, denn es trug einen Sack, der war gar schwer“, heißt es weiter. Dieses Stimmungsbild hat wenig gemein mit der Vorstellung von einer rasanten Schlittenfahrt und einem lustigen Rentier mit einer roten Nase. Die rote Nase hatte es selber. „Er (der Sack) schepperte und polterte hinter ihm her“. Im Gegenteil. Ich habe es bildlich vor Augen, wie sich das Christkind abmüht. Der Romantik zum Trotz hört es sich fast nach Kinderarbeit an. Wie wohl meine Mandarine geerntet wurde? Wenigstens ist sie „bio“.

Ich stecke ein Stückchen in den Mund. Tatsächlich, sie schmeckt genauso gut, wie sie zuvor gerochen hat. Das kann manchmal auch anders sein. Ich freue mich darüber und darüber, dass sie völlig kernlos ist. Einfach lecker. Im Gedicht fragt dann eine Stimme die Zuhörerschaft, ob sie wissen möchten, was drin war. Eine rein rhetorische Frage, versteht sich. Wer möchte das schließlich nicht wissen? Spielekonsole, Lego, Duftwässerchen, Küchenmaschine, Schmuck, Socken, Gutscheine? Sowas vermutlich. Da könnte es nun zu Enttäuschungen kommen, „denn es roch so gut nach Äpfeln und Nüssen“.

Frei nach Anna Ritter – aus meiner Erinnerung zitiert:

Denkt euch ich habe das Christkind gesehen
Es kam aus dem Wald
Das Mützchen voll Schnee
Die kleinen gefrorenen Händchen taten im weh
Denn es trug einen Sack
Der war gar schwer
Der schepperte und polterte hinter ihm her
Was drin war möchtet ihr wissen?
Ihr Naseweis, ihr Schelmenpack
Meint ihr er wäre offen der Sack?
Nein, zugebunden bis oben hin
Es was gewiss etwas schönes drin
Denn es roch so nach Äpfeln und Nüssen

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