#353 der Lack ist ab

Der Lack ist ab. Diese geflügelten Worte kommen mir in den Sinn, als ich den roten Nagellack entferne und die Pads betrachte. Wo sind sie hin, die Jahre der faltenlosen Schönheit? Vom Winde verweht.
Den ersten Eindruck dieses unaufhaltsamen Prozesses erfahre ich, als ich mich mit einer Schulfreundin nach vielen Jahren wieder treffe. Wir waren bis dato telefonisch oder schriftlich im Kontakt, hatten uns ein wenig aus den Augen verloren.

Sie und ich waren in der Grundschule in einer Klasse. Dann bin ich mit meinen Eltern weg gezogen. Irgendwann fing sie eine Brieffreundschaft an. Es folgten sporadische Treffen im Rheinland oder bei mir in Norddeutschland. Gemeinsam haben wir unsere Sturm- und Drangzeit erlebt, waren in der Normandie zelten, feiern, befreundet eben.

Dann trennten sich unsere Wege. Familien wurden gegründet, Kinder geboren, Häuser gebaut, Karriere gemacht. Ihr kennt das sicherlich.

Es klingelt. Wir sind erst vor kurzem eingezogen. Hier ist alles wunderbar. Tolle Wohnung, tolle Einrichtung, tolle Umgebung. Ich kann mich nicht beschweren und öffne daher mit stolz geschwellter Brust meiner alten Freundin die Tür.

Wir fallen uns in die Arme, drücken uns, wie wir es stets getan haben. Leider ist mein erster Gedanke, der mir dabei pfeilschnell durchs Gehirn rast: oh, ist sie alt geworden. Folgerichtig schließt sich ein zweiter sofort an: das denkt sie sicherlich auch von mir. Peng.
Wir verbringen ein paar schöne Tage. Ich merke in dieser Zeit jedoch, dass sich unsere Leben mehr voneinander weg bewegt haben, als gedacht. So ist das Leben. Es ist selten, dass sich Freundschaften durch alle Höhen und Tiefen parallel bewegen, ohne zu verblassen. Aber es gibt sie, auch wenn das selten ist (#275 damals).

Inzwischen bin mit den Nägeln fertig, lege die Pads beiseite, schaue in mein Spiegelbild. Dieselben Augen. Meine Augen. Immer noch ich.

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