#359 es ist Zeit

Es ist Zeit. Jacken werden angezogen, in die Schuhe wird geschlüpft. Die Türen gehen auf und schließen sich wieder. Die Plappermäulchen und Schweigsamen, Vordrängler, Redseligen, Aufgeregten und Zuhörer verlassen mich, ziehen ihrer Wege. Das Stimmengewirr entschwindet in der Ferne. Es ist wieder still.

Ich erledige die notwendigen Handgriffe. Kaum ist die Arbeit getan, kündet nur noch die Lichterkette am stilisierten Weihnachtsbaum, der bisweilen scherzhaft als Gerippe bezeichnet wird, davon, dass hier gerade viel Trubel herrschte. Schön war es mit meinen Lieben zusammen zu sitzen. Zu schwatzen, zu scherzen, die Gemeinsamkeit zu genießen. Ich mag es, wenn sich mein Wohnzimmer in eine lange, improvisierte Tafel verwandelt und sich alle aus Nah und Fern darum versammeln.

Jetzt spielt die Playlist Johnny Cash und ich sitze mit der anderen Hälfte meines Haushalts auf dem Sofa. Wir sitzen uns halb liegend gegenüber, packen das Backgammon Spiel aus. Nach drei Runden steht fest, dass ich den Kürzeren im innerfamiliären Wettbewerb ziehe. Wein füllt unsere Gläser und ich hole ein kleines Büchlein heraus, dessen Titel „Fragen“ einen Leitfaden für aufregende Gespräche verspricht.

Wir stellen uns daraus abwechselnd die Fragen. Gar nicht einfach, manche zu beantworten. „Verhalten Sie sich altersentsprechend?“ ist so eine. Oder: „Etwas, wonach Sie süchtig waren und jetzt nicht mehr sind?, „Wann haben Sie zuletzt gelogen?“ oder „Etwas, was du von mir gelernt hast“. Die Zeit plätschert dahin, ohne dass wir es merken. Die Gläser leeren und füllen sich wieder.

Diese Abende sind mir persönlich die liebsten. Sie sind mein Schatz. Nicht wegen der Fragen, sondern wegen ihrer Intensität. Das Gespräch entwickelt sich spielerisch, ist geistreich. Wir lachen viel. Überlegen aber auch ernsthaft. Tauschen unsere Meinungen aus und surfen auf derselben Welle. Wir betrachten die Metaebene. Raus aus dem klein-klein. Es gibt nur wenige Menschen, mit denen ich das kann.

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