Eingebettet zwischen zwei ebensolchen steht es, das Haus. Im Vorbeiflanieren auf dem Trottoir oder beim Vorüberfahren mit dem Auto, verhält es sich unauffällig. Sticht nicht hervor oder glänzt mit Besonderheiten. Es ist eins von den alten. Sie stehen hier alle mehr oder weniger aufgehübscht Seite an Seite und haben einiges erlebt. Zugegeben, längst nicht so viel wie ihre Genossen in der historischen Altstadt, aber immerhin.
Meinen Blick muss ich nach oben richten, um Feinheiten zu erkennen. Gedrungener ist es als seine Nachbarn. Das ist das erste, was beim Hinschauen ins Auge sticht. Im Vergleich erscheint es weniger imposant, weniger spektakulär. Dafür ist sein Dach verschachtelt. Mit Gauben versehen, erhält es das gewisse Etwas, seinen Charme, seine Individualität (#103 Charakterfrage). Auch unterscheidet sich jede Etage von der nächsten. Diese Besonderheit hat sogar die Zeit überstanden.
Ich wüsste gerne, welche Geschichten es kennt. Wie es ihm ergangen ist, als die Welt Kopf stand und nichts mehr war, wie es sein sollte. Wen hat es beherbergt? Fragt ihr euch das auch? Beim Anblick Altehrwürdigkeiten blitzen Fragen dieser Art bei mir auf. Als Historikerin sowie passionierte Geschichtenerzählerin ist das wahrscheinlich völlig normal.
Seine Haustür ist dunkelrot gestrichen. Der dahinterliegende Flur nebst Treppenaufgang beherbergt noch das ursprüngliche Treppenhaus. Jede Stufe ist ausgetreten, das Geländer abgegriffen. Manchmal riecht es nach Bohnerwachs, wenn die Stufen ihre benötigte Pflege erhalten. Es ächzt und stöhnt beim sorglosen Herabspringen seiner Bewohner:innen, egal ob groß oder klein. Es spricht mit uns. Redet auf seine Weise, in seiner Sprache. Verbiegt und dehnt sich, je Wetterlage und lässt dann Türen am Boden entlang schleifen oder leichtfüßig ins Schloss fallen. Ganz wie es ihm gefällt.
Längst schon habe ich die Illusion verloren, ich wäre hier die Herrin. Nein, es wird mich überdauern. Irgendwann meine Geschichte erzählen. Dessen bin ich mir sicher.