#457 Bruder und Schwester

Es ist spät in der Nacht und ich komme von irgendwo her nach Hause. Öffne gekonnt leise die Garage, stelle mein Rad an die Wand. Schließe es vorsichtig wieder. Gehe vier, fünf Schritte zur Haustür. Nahezu geräuschlos schließe ich auf. Ich kenne alle Kniffe und Tricks, um leise ins Haus zu gelangen. Egal, in welchem Zustand ich mich befinde. Bestimmt war ich gerade in der Disco, einer Kneipe oder auf irgendeiner Party.

Rechter Hand führt gleich eine steinerne Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ich schleiche auf Zehenspitzen rauf in mein Zimmer. Es liegt am entgegengesetzten Ende des Flurs. Dort lade ich alles ab, was ich dabei habe und gehe ins Bad. Abschminken, Zähne putzen und so. Zwischen meinem Zimmer und dem Bad ist das Zimmer meines kleinen Bruders. Er ist einige Jahre jünger als ich. Er schläft bereits und hat seine Klamotten im Bad über eine kleine Bank gelegt. Als ich das Bad betrete strömt mir jener Teenagerduft entgegen, dem ich selber noch nicht lange entwachsen war. Wenn überhaupt.

Ich kenne das schon. Schnappe mir also das Paar Socken, das auf den Fliesen unter der Bank liegt. Mit zwei spitzen Fingern und gerümpfter Nase trage ich es raus über den Flur. Öffne die Zimmertür meines Bruders und lasse sie dort fallen.

Ganz früher, er war kaum auf der Welt, ein paar Jahre alt. Ich hatte mich gerade an ihn gewöhnt, da haben wir am Wochenende oft zusammen in einem Bett übernachtet. Er war frisch gebadet (ich wahrscheinlich auch) und roch unwiderstehlich gut. Wir haben gekuschelt, Kassette gehört, erzählt. Wir sind Arm in Arm eingeschlafen.

Beim Glasnudelschneiden erinnere ich mich daran. Als er klein war, hat unsere Mutter ihm vorsorglich die Spaghetti geschnitten. Damit er keine Sauerei macht. Warum sonst? Ich jedenfalls, ich möchte ihn an keinem Tag hergeben.

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