Magie

#73 Magie

Bücher üben Magie auf mich aus oder langweilen mich schrecklich. Magie entsteht, wenn der Inhalt spannend, schlüssig, fantasievoll, ergreifend oder humorvoll ist – einerseits. Faszinierender noch als das ist es andererseits, wenn die Sprache ihre Schönheit entfaltet, wenn sie malt. Und nicht nur das. Wenn Singsang und Klang der Worte eine Melodie entstehen lassen und eine allumfassende Harmonie erzeugen, dann entschwinde ich unwillkürlich immer weiter, immer tiefer in eine andere Welt. Himmel und Erde zugleich. Anfang und Ende. Dann ist es episch, dann ist es Kunst und viel mehr als blanke Geschichte, Erzählung, Roman. Dann wird es fast schmerzlich ein Teil von mir.

Ich bin vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt und fahre das erste Mal mit dem Ziel in die Stadt, mir ein bestimmtes Buch in der Buchhandlung zu kaufen. Meine Freundin hat mir von diesem Buch berichtet. Ich bin neugierig. Ich möchte es unbedingt lesen. Ich fahre mit dem Fahrrad, lehne es sacht ans Schaufenster, schließe ab und betrete die Buchhandlung. Ich spüre mein Herz klopfen, denn ich möchte es unbedingt haben. Ich schaue mich um und versuche mich in dieser aufregenden Welt zurecht zu finden. Gar nicht so einfach, das erste Mal und ich finde es nicht gleich. Ich bezahle an der Kasse und flitze wie ein Wirbelwind auf meinem Rad heimwärts.

Es ist mild und meine Bäckchen glühen heiß auf. Ich kann es kaum erwarten. Zuhause lege ich mich auf mein Bett und überfliege fast ungeduldig die Seiten, sauge den Inhalt auf, kann mich immer noch daran erinnern und es steht immer noch in meinem Regal. Ich beende es am nächsten Morgen und die Traurigkeit überfällt mich gleich eines Abschiedsschmerzes brutal und mit derjenigen Endlichkeit, die den Lebensfaden durchtrennt. Die Leere, die es hinterlässt, daran erinnere mich gut. Dennoch – ich brauche mehr davon, das verstehe ich sofort.

#74 Kunst

Einige Texte ähneln sich, spielen mit den Figuren und Inhalten eines anderen, beziehen sich aufeinander. Gleich so, als träten sie ihre eigenen Dialoge führen. Es gibt eine Handvoll herausragender Texte, Lieblingsbücher gewissermaßen. Eines von ihnen hat mir diejenigen Worte geliefert, die mir zum Leitbild geworden sind. Ich bewege die Worte hin und her und finde, egal wie ich es drehe und wende, keinen Einwand, der sie nicht vollkommen macht. Vollkommen für mich. Es ist ein passender und allgemeingültiger Satz. Aus dem Buch und von demjenigen Autor, der in Sprache und Ausdruck für mein Verständnis nahezu perfekt ist. Einzig die furchtlosen Memoiren seiner Geliebten, die Geschichte Barrabas oder die schönste Liebesgeschichte der Welt, wie dem Vorwort des kleinen Büchleins zu entnehmen ist, reichen hier heran. Und was die angeblich schönste Liebesgeschichte der Welt anbelangt, wahrlich ich schwöre es, es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt, das sehe ich ganz genauso.

Ich habe Bücher. Es sind derer nicht übermäßig viele aber einige davon, die in meinem Regal stehen, lese ich immer wieder. Manche ihrer ersten Sätze kenne ich auswendig. „Barrabas kam auf dem Seeweg in die Familie“ ist einer von ihnen. Ein Türöffner gewissermaßen, der lockend ruft. Manche Bücher kenne ich passagenweise soweit auswendig, dass hier und da und bei Gelegenheit sich ihre Texte einen Weg in mein Bewusstsein bahnen.

Dieses kleine, unscheinbare Büchlein, vor vielen Jahren ausgeliehen, vielfach weiter von mir angepriesen, hat es die Runde gemacht und steht nun zerfleddert da. Ich habe es damals nicht zurückgegeben. Absichtlich. Ich konnte mich nicht von ihm trennen, habe es einfach nicht über mein Herz gebracht und musste es behalten. Das geklaute Buch. Es ist mein Schatz.

#75 Ursprung

„Erzähl mir bitte eine Geschichte von früher“, fordere ich meinen Vater auf, denn ich brenne geradezu darauf, sie zu hören. Sie spielen im Hannover der Nachkriegszeit und ich erfreue mich daran, wie er sie mir erzählt, ausschmückt. Vielleicht, ganz vielleicht, ein wenig übertreibt. Spannend und plastisch sehe ich Bubi und Spatze vor meinen Augen entstehen. Schmecke die Senfbrote und Bruchschokolade und sehe die Jungs in kurzen Hosen und langen Strümpfen um die zerbombten Häuser ihres Viertels ziehen.

Ich erlebe die Geschichte der geklauten Äpfel und begleite meinen Vater auf seinem Roller in die Stadt, um dort Bananen zu besorgen, wie es ihm seine Mutter aufgetragen hat. Ich spiele mit ihm Fußball und verbrenne mich am Bügeleisen. Mache mit ihm die Fläschchen für seine jüngeren Schwestern und pfeife, so wie er, auf dem Mundstück der Blockflöte wieder das nächste Fußballspiel an. Ich kann mir alles lebhaft vorstellen und doch, ich bin erst fünf Jahre alt.

Solange ich zurückdenken kann, gibt es nichts, was mich mehr fasziniert. Ich höre sie alle. Die Erzählungen meines Vaters und die meiner Mutter. Von meinen Großeltern und allen Leuten, die ich bewegen kann, mir ihre Erlebnisse zu schildern. Mit meinem Opa radle ich von Berlin nach Stettin. Sehe in Pankow die Welt aus seinen Augen und empfinde den Schmerz über den verlorenen Vater. Mit meiner Oma verkrieche ich mich beim Schweineschlachten ängstlich ins hinterste Eck des Hauses. Verstecke mich mit meiner Mutter heimlich hinterm Sofa. Dort verschlingen wir selig und gierig den Schokohasen, den sie zuvor ihrem großen Bruder stibitzt hat. Klavier spielen wir zusammen bei den Nonnen und verhelfen uns mit Susi gegenseitig zu Alibis. Ich kann mir alles lebhaft vorstellen und doch, ich bin erst fünf Jahre alt.

#76 Fantasie

Ich lache mit meiner Großmutter über die Geschichten ihres Vaters. Der Vater ist Schornsteinfegermeister und ausgestattet mit viel Humor. Er schreckt nicht davor zurück, den Pastor zu ärgern, als dieser im Garten flanierend an seiner Sonntagspredigt arbeitet. Aus dem Schornstein heraus ruft er den Gottesmann mit seiner tiefen, sanften Stimme an: „oh Samuel, oh Samuel“, so dass dieser ehrfürchtig die Fassung verliert. Ein anderes Mal begleite ich ihn tapfer dabei, die Leiche eines Mannes die enge Stiege hinab zu tragen. Zum Dank für seine Hilfe bekommt er ein Ei, das er unter dem Zylinder seiner Kluft umsichtig deponiert, heimwärts bringt. In der Küche sehe ich ihn vor dem mit heißem Wasser gefüllten Waschzuber knien. Er wäscht erst Gesicht und Hände, bevor er sich ganz hineinsetzt und den Rest seines Körpers vom Ruß und dem Schweiß der Arbeit befreit. Sein tägliches Ritual – wieder und wieder.

Ich höre mir all diese Erzählungen voll staunendem Interesse an. Ich möchte sie immer wieder und wieder hören und passe auf, dass keine Details verloren gehen, mir nichts unterschlagen wird. Einmal staune ich darüber, wenn mein Urgroßvater mit einem klumpen Gold in der Tasche zur Messe nach London fährt. Ob es wirklich ein Klumpen ist – keine Ahnung. Dichtung und Wahrheit verschwimmen bisweilen.

Dort wo die Erinnerung des Erzählers aufhört, beginnt die Fantasie. Und ich bin noch so klein, mir ist es egal, denn es tut nichts zur Sache. Im Gegenteil, es beflügelt meine Vorstellungskraft und macht mich süchtig nach mehr. Ich sammle Geschichten und freue mich über jeden kleinen Fetzen, den ich ergattern kann. Heute, ja heute ist das immer noch so.